Biointelligenz als neues Wertschöpfungsparadigma: Warum wir den Wandel jetzt einleiten müssen

Ein Blick auf das prognostizierte Bevölkerungswachstum und die damit verbundene Notwendigkeit, die Welternährung sicherzustellen, verdeutlicht die riesige Herausforderung: Es steigt der Bedarf an Energie, während wichtige Ressourcen immer knapper werden. In dieser komplexen Lage, so Professor Thomas Bauernhansl im Gespräch mit Professor Anabel Ternès, müssen wir uns verstärkt der Biointelligenz zuwenden. Ihre Integration in unsere Industrie bringt nicht nur ökologische Vorteile, sondern eröffnet auch ein riesiges ökonomisches Potenzial.

Ein Interview zwischen Prof. Dr. Anabel Ternès und Prof. Dr.-Ing. Thomas Bauernhansl

Ternès: Was verbirgt sich hinter dem Begriff Biointelligenz?

Biointelligenz ist kurzgesagt die dritte Stufe einer biologischen Transformation. Auf der ersten Stufe, der Bioinspiration schauen wir uns Muster aus der Natur ab und übertragen sie auf die Produktion. Die zweite Stufe ist die Biotechnologie, die Implementierung von biologischen Prozessen in die technische Produktion. Auch hier sind wir schon gut unterwegs, v.a. in den Bereichen Ernährung, Medizin und Pharmazie. Auf der dritten Stufe verbinden wir diese Biotechnologie nun mit der Informationstechnik. Diese drei Stufen werden aber nicht hintereinander, sondern weitgehend parallel erklommen.

Die Biointelligenz als Konvergenz von Bio-, Hard- und Software ist verwandt mit Ansätzen wie dem Biomanufacturing, der Bioproduktion, dem Bioengineering oder der Bioökonomie. Sie stellt durch ihren strengen Fokus auf die trilaterale Zusammenführung von Lebens-, Ingenieur- und Informationswissenschaften aber einen eigenständigen Innovationspfad dar und ist damit in erster Linie eine Ausprägung der aus dem englischsprachigen Raum bekannten „Converging Technologies“, der „BioConvergence“ bzw. „BioDigital-Convergence“.

Ternès: Wie genau wird das für uns, unser Leben und unsere Industrie relevant? Haben Sie Beispiele?

Biointelligenz wird unser Leben und unsere Industrie in vielerlei Hinsicht revolutionieren. Zum Beispiel im Gesundheitswesen: Durch biotechnologische Fortschritte können wir personalisierte Medizin entwickeln oder genetische Informationen nutzen, um maßgeschneiderte Gesundheitspläne zu erstellen. Die Krebsmedikation wird, etwa mit ATMP bzw. CAR-T Zellen, immer weiter personalisiert, günstiger und effektiver. In der Landwirtschaft können präzise Techniken, die auf Biointelligenz basieren, den Ertrag steigern und Ressourcen schonen. Es werden beispielsweise bereits heute intelligente Maschinen verwendet, die Wetter- oder Bodendaten analysieren und präzise Entscheidungen treffen. In der Textilindustrie setzt man zunehmend auf biotechnologisch hergestellte Materialien wie beispielsweise Myzelium, um nachhaltige Mode zu produzieren. Das sind aber nur einige der vielen Beispiele, die zeigen, dass sich Biointelligenz mehr und mehr durchsetzt. Es gibt viele weitere.

Im menschlichen „Bedürfnisfeld“ Konsum, wie wir das in unserer Untersuchung InBenBio genannt haben, kann bspw. im Rahmen des Waste-to-X-Ansatzes organischer Abfall in eine breite Palette von Produkten wie Chemikalien und Energieträger verwandelt werden.

Im Bedürfnisfeld Energie spielen die möglichen Negative-Emissions-Ansätze Bioenergy Carbon Capture and Storage (BECCS) und Direct Air Carbon Capture and Storage (DACCS) eine entscheidende Rolle. BECCS umfasst die Nutzung von Biomasse zur Energieerzeugung, wobei das dabei entstehende CO2 abgeschieden und sicher im Untergrund gespeichert wird.

Im Bedürfnisfeld Ernährung spielen besonders Themen wie die Produktion von Lebensmitteln auf engen Räumen bzw. eine geringe Flächenverfügbarkeit durch vertikale Landwirtschaft oder Smart Greenhouses eine Rolle.

Ternès: Welche Technologien sind hier die entscheidenden Anknüpfungspunkte für die notwendige Ausrichtung der produzierenden Industrie in Deutschland?

Die Möglichkeiten sind vielfältig. Die Komplexität liegt in der Kombination von Biotechnologie und Informatik. Es wird aber wohl nicht die eine ultimative Technologie sein, die hier punktet. Es sind eher viele verschiedene Technologien, die ein großes stimmiges Ganzes ergeben. Wir haben in InBenBio die Aktivitäten im Bereich der biointelligenten Wertschöpfung identifiziert und bewertet. Weltweit zeigt sich bereits jetzt schon eine Vielzahl von (annähernd) biointelligenten Technologien, Produkten und Dienstleistungen. Wir haben diese in 17 sogenannte Befähigertechnologiefelder kategorisiert. Dabei haben wir uns Patente, wissenschaftliche Veröffentlichungen sowie Anwendungsbeispiele genauer angeschaut.

Was die Technologien angeht steht Künstliche Intelligenz (KI) vornan. Sie kann komplexe Daten analysieren und Muster erkennen, die für die Integration biologischer Prozesse notwendig sind. Auch Biotechnologie spielt eine große Rolle. Die Fortschritte in der Gentechnik und synthetischen Biologie sind hier entscheidend. Robotik und Automatisierung ermöglichen dann die präzise Umsetzung biologischer Prozesse.

Ternès: Die Transformation der Industrie hin zu biointelligenten Wertschöpfungssystemen ist eine globale Herausforderung. Wie steht der Wirtschaftsstandort Deutschland im internationalen Vergleich da? Welche Handlungsfelder sind für Deutschland besonders relevant?

Unsere Untersuchung InBenBio hat gezeigt, dass wir derzeit im Kontext der untersuchten Länder auf Platz zwei hinter den USA liegen. Dies zeigt sich in der vielfältigen Forschungslandschaft in Deutschland. Sie ist geprägt von einer starken Grundlagenforschung im Bereich der biointelligenten Wertschöpfung, wobei die Integration der Forschungsergebnisse in anwendungsorientierte Lösungen verbesserungswürdig ist. Deutschland entwickelt auch interdisziplinäre und praxisorientierte Studiengänge und Ausbildungsberufe, um qualifiziertes Personal für die Umsetzung einer biointelligenten Wertschöpfung auszubilden – ein Riesenvorteil.

Der Marktzugang Deutschlands ist durch eine herausragende Position im internationalen Handel sehr gut. Die geschickte Anpassung an die sich wandelnden globalen Märkte und das Bewusstsein für die zentrale Bedeutung der Wertschöpfung im Konvergenzbereich bieten Deutschland die Chance, seine Spitzenposition nachhaltig weiter auszubauen.

Geschäftsmodelle in Deutschland sind stark exportorientiert, mit einem Fokus auf die globale Reichweit. Deutsche Unternehmen bieten trotz ihrer mittleren Position im internationalen Ranking eine solide Basis für zukünftiges Wachstum. Parallel dazu verfolgen sie eine proaktive Marktgestaltungsstrategie, indem sie Trends vorwegnehmen und innovative Lösungen entwickeln, um aktiv neue Märkte zu erschließen und zu formen, anstatt nur auf bestehende Marktbedingungen zu reagieren.

Die deutsche Industrie zeigt darüber hinaus ein umfangreiches Engagement für Nachhaltigkeit. Diese Haltung wird immer stärker in der Unternehmenskultur verankert und spiegelt sich sowohl in großen als auch in kleinen Unternehmen wider, die ein neues Bewusstsein für ökologische Nachhaltigkeit entwickeln und fördern.

Deutliche Defizite werden bei uns vor allem bei der Umsetzung der Marktreife sichtbar. Die derzeit verfügbaren biointelligenten Technologien, Produkte und Dienstleistungen befinden sich auf einem niedrigeren Technology-Readyness-Level und der Transfer dieser Technologien von der Forschung in die Anwendung erfolgt nur zögerlich.

Für das Unternehmenswachstum stellen sich in Deutschland häufig Regulierungen, lange Zulassungsprozesse sowie bürokratische Hürden auf dem europäischen Markt als Hindernisse dar. Die bislang unzureichende politische Unterstützung in Form von Forschungsprogrammen begrenzt die Möglichkeiten zur weiteren Entwicklung des Themas im Hinblick auf die Umsetzung der Marktreife zusätzlich.

Ternès. Was raten Sie Unternehmen, um die richtigen Weichen zu stellen? Wie können die vorhandenen Forschungsarbeiten in die industrielle Anwendung gebracht werden?

Unternehmen sollten zunächst einmal Partnerschaften eingehen. Engere Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen und Start-ups kann Innovationen beschleunigen. Auch kontinuierliche Investitionen in Forschung und Entwicklung sind entscheidend. Und die Einführung kleinerer, risikobegrenzter Pilotprojekte kann helfen, neue Technologien zu testen und zu skalieren.

Kooperationen zwischen Praxis und Forschung sind also von entscheidender Bedeutung. Es gibt viele innovative Ideen, die jedoch nicht umgesetzt werden, weil es Missverständnisse bezüglich der gegenseitigen Anforderungen und Perspektiven gibt. Netzwerke wie die europäische ManuFuture Subplatform Biointelligent Manufacturing oder das Kompetenzzentrum Biointelligenz können hier unterstützend wirken. Unternehmen profitieren besonders vom Austausch und den Erfahrungen anderer, auch auf internationaler Ebene. Weiterbildung ist dabei nicht nur für Führungskräfte, sondern für die gesamte Belegschaft unerlässlich.

Gleichzeitig benötigen wir den individuellen Mut der Unternehmer, sich auf dieses teilweise unbekannte Terrain zu begeben und zu erkunden, wo ihr eigener Ansatz liegen könnte. In den letzten Jahren hat die Politik diesen Erfindergeist jedoch durch Regulierungen teilweise gebremst. Unternehmen und wir wünschen uns hier mehr Offenheit gegenüber neuen Technologien und, im Falle von Unsicherheiten, wie bei der Gentechnik, einen offenen Dialog. Wir sollten dabei auch nicht vergessen, kleine und mittlere Unternehmen als Rückgrat der deutschen Wirtschaft mitzunehmen. Es ist wichtig, frühzeitig für das Thema Biointelligenz zu sensibilisieren, um das Verständnis für biointelligente Wertschöpfung zu vertiefen und die Entscheidungsfindung zu erleichtern.

Ternès: Die Unternehmensinvestitionen in Deutschland sind niedrig; die Betriebe halten derzeit lieber ihr Geld zusammen, aber im Status quo zu verharren, könnte über kurz oder lang zu noch größeren Problemen führen. Wie können Unternehmen den Spagat zwischen Sparmaßnahmen und biointelligenter Zukunft erfolgreich bewältigen?

Um diesen Spagat zu meistern, benötigen Unternehmen Fördermittel. Es gibt zahlreiche staatliche Förderprogramme und EU-Fonds, die Innovationen unterstützen. Unternehmen sollten diese Mittel aktiv nutzen.

Auch schrittweise Investitionen sind ein wichtiger Aspekt. Unternehmen können in kleinen, kontrollierbaren Schritten investieren, um das Risiko zu minimieren und dennoch Fortschritte zu machen.

Letztendlich versuchen viele Unternehmen weiterhin an erster Stelle eine Effizienzsteigerung zu erreichen. Durch die Implementierung von Effizienzmaßnahmen können Kosten gespart und freiwerdende Mittel in Innovationen investiert werden. Dies darf allerdings nicht zu einem Modus führen, der an Personal bzw. dem Engagement für deren Potenzialförderung, Weiterbildung und Integration in strategische Unternehmensprozesse spart. Hier muss ein grundlegendes Umdenken erfolgen, das ein traditionelles Höher-Schneller-Weiter durch ein kluges Miteinander von Technologie, Innovation und Nachhaltigkeit ersetzt.

Fazit:

Eine stärkere Förderung von Start-ups, eine intensivere Vernetzung von Akteuren und eine Fokussierung auf praxisrelevante Lösungen sind entscheidend für eine biointelligente Zukunft. Deutschland hat das Potenzial, in der biointelligenten Wertschöpfung eine führende Rolle einzunehmen, aber dafür bedarf es des richtigen Zusammenspiels von Forschung, Wirtschaft und öffentlicher Förderung.

„Der 2. Biointelligenz Kongress, am 22. Oktober 2024 im Stuttgarter Rathaus, bietet eine einzigartige Plattform zur Diskussion und Erforschung dieser Herausforderung.  Fachvorträge und Beispiele aus der Industrie zeigen den Weg zur biointelligenten Wertschöpfung auf. Der Austausch mit Fachleuten aus den Bereichen Medizin, Ernährung, Produktion und Architektur sowie mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gibt Ihnen den Raum, eigene Ideen zu diskutieren und sich von den Erfahrungen anderer inspirieren zu lassen. Von hochkarätigen Expertinnen und Experten, die an der Schnittstelle von Biologie und Technologie arbeiten, können Sie Ideen und Kooperationsmöglichkeiten für Ihr Unternehmen erkunden. Nutzen Sie diese Chance und melden Sie sich noch heute für den Kongress an.“

Das Interview zwischen Frau Ternès und Herrn Bauernhansl erscheint nicht nur im Blog Biointelligenz sondern auch hier.

Weitere Informationen und Anmeldung zum Biointelligenz Kongress:

https://www.ipa.fraunhofer.de/de/veranstaltungen-messen/veranstaltungen/2024/2nd-biointelligence-congress-in-stuttgart.html

Internationale Benchmark Biointelligenz downloaden unter https://www.ipa.fraunhofer.de/de/Publikationen/studien/benchmark-biointelligenz.html

 

Kommentar schreiben