Sie springt hoch über seinen Kopf. Im Flug trennt sie einen seiner vier hydraulischen Arme samt eingebauter Plasmawaffe vom Rumpf seines stählernen Maschinenkörpers, nur mit einer Bewegung ihres Armes: blitzschnell, präzise und mit unglaublicher Kraft. Sanft landet sie hinter dem taumelnden Cyborg, der schließlich donnernd zu Boden geht. Sie wusste selbst nicht, dass sie zu so etwas in der Lage ist …
Haben Sie schon den Film »Alita – Battle Angel« gesehen? Die Hauptrolle spielt ein junges Mädchen, halb Mensch, halb Maschine. In einer dystopischen Science-Fiction-Welt kämpft sie gegen brutale Robotermenschen. Ihr Gehirn ist menschlich, ihre Organe sind künstlich. Als Einzige ihrer Art verfügt sie über einen maschinellen Körper mit weichen und flexiblen Muskelzellen, die ihr übermenschliche Fähigkeiten und Kräfte verleihen und sie schließlich als Heldin triumphieren lassen.
Soft statt steif
Auch wenn wir wohl noch lange keine Cyborgs bekämpfen müssen und der Hollywood-Film aus wissenschaftlicher Perspektive auf einer, zugegeben, eher dünnen Realitätsgrundlage steht, ist die Botschaft klar: Die fortschrittliche Muskeltechnologie verschafft Alita einen entscheidenden Vorteil gegenüber ihren Gegnern aus starrem Metall. Angetrieben von schweren Motoren, komplexer Mechanik und dröhnenden Hydraulikaggregaten sind diese ihr zwar in Größe und Kraft überlegen, sie haben jedoch eine vergleichsweise eingeschränkte Bewegungsfreiheit und absolut keine Feinmotorik.
Übertragen auf unsere heutige Zeit bedeutet das: Im Gegensatz zu Robotern, die aus starren Materialien gebaut sind, ermöglichen weiche künstliche Muskeln eine erhöhte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit bei der Bewältigung bestimmter Aufgaben. Sie können ihre Form beim Kontakt mit anderen Gegenständen anpassen, haben ein geringes Eigengewicht und ermöglichen beispielsweise die feinfühlige Handhabung empfindlicher Gegenstände.
Weiche Muskeln für Industrie- und Assistenzroboter
In Zukunft werden Menschen vermehrt mit Robotern in Kontakt kommen, beispielsweise mit Assistenz-Robotern in Pflegeheimen, bei Montage- und Verpackungsaufgaben in der Industrie oder in Form von aktiven Prothesen und Orthesen in der Medizintechnik. Daher sind weiche, leise Maschinen gefragt, die den Menschen nicht so leicht verletzen können. Würden Sie sich etwa bedenkenlos von einem zischenden Blechautomaten mit stählernen Werkzeugarmen die Haare schneiden oder gar rasieren lassen? Und hätten Sie ein ruhiges Gewissen, wenn sich Ihre gebrechliche Großmutter in der maschinellen Obhut eines übereifrigen Pflegeroboters befände, der sie allmorgendlich mit kraftvollen Zangengreifern zur Einnahme eines frisch gepressten O-Safts motiviert? Wohl kaum. Dazu bräuchte es weiche und flexible Helfer, die uns sanft und vorsichtig anfassen und uns nicht bei einer Kollision rücksichtslos k.o. schlagen. Solche nachgiebigen Roboter werden heute in der »Soft-Robotik« untersucht, einem Teilgebiet der Robotik. Sie befasst sich mit dem Bau von Robotern aus hochkonformen Materialien, ähnlich wie sie in lebenden Organismen vorkommen.
Inspiration aus der Biologie
Lebende Organismen können sich an ihre Umgebung anpassen. Tintenfische bestehen beispielsweise ausschließlich aus Weichteilen und besitzen kein Skelett. Durch ihr weiches Muskelgewebe sind sie sehr beweglich und können selbst in schmale Ritzen schlüpfen. Trotz unzähliger Freiheitsgrade und komplexen Körperbewegungen ist das Tier zu keinem Zeitpunkt mit der Koordination seines Bewegungsapparates überfordert. Obendrein bewältigt es auch noch die Kunst der adaptiven Tarnung und kann die Textur und die Farbe seiner Haut gezielt verändern.
Doch wie kann man ein so komplexes Bewegungssystem künstlich herstellen, das über hunderte Millionen von Jahren Evolution immer weiter perfektioniert wurde? Und was können wir von der Biologie lernen, um unser zukünftiges interaktives Leben und Arbeiten mit Assistenz- und Industrierobotern sicherer und angenehmer zu gestalten? Die Verwendung konventioneller Aktortechnologien für künstliche Muskeln würde den Einsatz hunderter miniaturisierter Elektromotoren, Stellzylinder oder Pneumatik-Ventile erfordern. Die damit verbundene schwere, komplexe und raumeinnehmende Mechanik führt daher meist zum Ausschluss solcher Technologien, von den immensen Kosten ganz zu schweigen.
Elektroaktive Polymere
Um biologische Muskeln zu imitieren, benötigt man geeignete Materialien, die weich und gleichzeitig aktuierbar sind. Zu den wenigen synthetischen Materialien mit intrinsischer Verformbarkeit gehören ionische elektroaktive Polymere (EAPs). Diese meist im Labor hergestellten künstlichen Muskeln aus speziellen Kunststoffverbünden können durch das Anlegen kleiner elektrischer Spannungen ihre Form verändern und erzielen mitunter beachtliche Auslenkungen und Kräfte. Ähnlich wie bei biologischen Muskeln erfolgt die Verformung durch Ionenverschiebungen zwischen benachbarten Schwellkörpern.
Als jüngster Vertreter ihrer Art weisen Carbon Nanotube (CNT) basierte EAPs einige vorteilhafte Eigenschaften auf, wie z.B. eine gute Kraftübertragung, Funktionsfähigkeit in Luft, integrierte Sensorfunktionalität, absolute Geräuschlosigkeit und eine vergleichsweise einfache Herstellung. In umfangreichen nationalen und internationalen Forschungsprojekten unter Beteiligung des Fraunhofer IPA konnte bestätigt werden, dass diese komplexen elektrochemischen Materialverbünde grundsätzlich zur synthetischen Nachahmung von biologischen Verformungsprinzipien herangezogen werden können. Unsere künstlichen Muskeln konnten wir unter Anderem bereits in textilen Gebäudehüllen testen, wo sie für eine steuerbare Atmungsaktivität genutzt wurden.
Wie lang dauert’s noch?
Doch wo stehen wir wirklich? Gibt es bald eine echte Alita mit künstlichen Muskeln aus EAPs? Wie lange dauert es noch, bis wir maschinelle Lebensbegleiter haben, die uns sanft ein Glas O-Saft reichen können, sachte unsere Patienten umbetten oder uns die Haare schneiden, ohne dass wir mit blutig verschrammter Kopfhaut aus dem vollautomatisierten Friseursalon fliehen?
Fest steht: EAPs stellen nicht gerade den einfachsten Kandidaten für die Entwicklung eines nachgiebigen Muskelantriebs für Maschinen dar. Ihr komplexer Herstellungsprozess, ihre hochentwickelten Materialzusammensetzungen, ihre bislang noch unzureichenden Leistungsmerkmale und ihre Empfindlichkeit gegenüber Umweltfaktoren standen einer kommerziellen Verbreitung bisher im Weg. Praktisch gibt es noch keine marktgängigen Produkte mit den kleinen Aktoren.
Doch es steht ebenfalls fest: Der Fortschritt in der Entwicklung von EAPs ist vielversprechend. Die mediale Präsenz wächst, immer wieder wird von neuen Anwendungsszenarien berichtet, die auf unterschiedlichen EAP-Technologien basieren. Wir am Fraunhofer IPA wollen diese Entwicklung aktiv mitgestalten und kümmern uns um die Industrialisierung der Herstellprozesse. Nur mit einer skalierbaren Produktionstechnik wie z.B. mit Hilfe automatisierter Beschichtungsverfahren können die Kosten gesenkt und die Reproduzierbarkeit verbessert werden. Kontaktieren Sie uns, wenn Sie sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigen möchten.