Grüner Wasserstoff aus industriellen Spülwässern – Biotechnologie macht’s möglich

Eine Bioraffinerie, die industrielle Spülwässer und Reststoffe nutzt, um »grünen« Wasserstoff und Wertstoffe herzustellen, steht seit kurzem auf dem Gelände von Evonik in Rheinfelden (Baden). Umweltstaatssekretär Dr. Andre Baumann eröffnete die Demonstrationsanlage Anfang August. Damit die Umwandlung von Abfallströmen zu neuen Produkten möglich wird, hat das Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB im Projekt SmartBioH2-BW zwei biotechnologische Verfahren intelligent miteinander gekoppelt: Purpurbakterien und Mikroalgen. Dr.-Ing. Ursula Schließmann erklärt im Gespräch, wie die Bioraffinerie funktioniert.

Abfall und Abwasser werden bisher immer noch zu wenig wertschöpfend genutzt. Mit dem Förderprogramm »Bioökonomie – Bioraffinerien zur Gewinnung von Rohstoffen aus Abfall und Abwasser – Bio-Ab-Cycling« will Baden-Württemberg dies ändern. Seit Oktober 2021 fördert das Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg mit Landesmitteln und Mitteln aus dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) den Aufbau fünf modularer Bioraffinerien, um im Demonstrationsmaßstab zu erproben, wie mittels nachhaltiger Bioökonomie hochwertige Rohstoffe aus Abfall und Abwasser zurückgewonnen werden können.

SmartBioH2: Biowasserstoff intelligent gewinnen – biointelligent!

Eine der geförderten Demonstrationsanlagen ist die Bioraffinerie des Projekts SmartBioH2-BW, die am 3. August 2024 von Dr. Andre Baumann, Staatssekretär im Umweltministerium Baden-Württemberg, eröffnet wurde. SmartBioH2-BW steht für »Biowasserstoff aus industriellen Abwasser- und Reststoffströmen als Plattform für vielseitige Biosynthesewege«. Das vom Fraunhofer IGB koordinierte Projekt läuft noch bis Ende Oktober 2024. Das Ziel: Eine Bioraffinerie in eine bestehende Industrieumgebung zu integrieren, um aus anfallenden industriellen festen und flüssigen Reststoffströmen Wasserstoff und weitere wertschöpfende Produkte zu erzeugen.

Pilotanlagen für den Wandel zu Bioökonomie und Kreislaufwirtschaft

Anlässlich der Eröffnung der Anlage sagte Staatssekretär Dr. Andre Baumann: »Wir brauchen dringend einen gesellschaftlichen Wandel – weg vom Einsatz fossiler oder knapper Ressourcen hin zur Nutzung biobasierter oder im Kreislauf geführter Stoffe. Das Projekt SmartBioH2-BW zeigt vorbildlich, wie ein solch zukunftsweisender Weg aussehen kann. Hier werden Verfahren, die im kleinen Maßstab einzeln bereits funktionieren, in Demonstrations- und Pilotanlagen kombiniert und erprobt. Dies ist eine wichtige Zwischenstufe, damit die Verfahren im nächsten Schritt in den Kommunen oder in der Industrie zum Einsatz kommen können. Durch den Einsatz dieser Bioraffinerien schützen wir am Ende nicht nur das Klima und unsere Ressourcen, sondern stärken auch die Resilienz des Wirtschaftsstandorts Baden-Württemberg in Krisensituationen.«

Eine »Win-win-win-Situation« für Umwelt, Chemieindustrie und Forschung

Die Bioraffinerie steht in Rheinfelden auf dem Gelände von Evonik, die als assoziierter Partner im Projekt beteiligt ist. Die Evonik Industries AG ist einer der weltweit größten Hersteller von Spezialchemikalien. An ihrem Standort in Südbaden produziert Evonik unter anderem Wasserstoffperoxid, das als Desinfektionsmittel – etwa für Joghurtbecher – eingesetzt wird. Hierfür wird, ebenso wie für andere Produktionsprozesse im Werk, Wasserstoff benötigt, den das Unternehmen seit Jahrzehnten direkt vor Ort aus Erdgas produziert.

Hermann Becker, Standortleiter von Evonik: »Der Standort von Evonik in Rheinfelden hat sich auf die Fahne geschrieben, die grüne Transformation unserer Branche voranzutreiben. Mit dem gemeinsamen Forschungsprojekt und der zukunftsweisenden Pilotanlage wollen wir zeigen, wie das im Sinne der Kreislaufwirtschaft gehen kann – sauberer Wasserstoff gewonnen aus Spülwasser und Reststoffen ist eine Win-win-win-Situation für die Umwelt, die Chemieindustrie und die Wissenschaft.«

Haben am 3. August 2024 den Demonstrationsbetrieb der SmartBioH2-Bioraffinerie bei Evonik in Rheinfelden eröffnet (v. l.): Marion Dammann (Landrätin Landkreis Lörrach), Staatssekretär Dr. Andre Baumann, Hermann Becker (Standortleiter Evonik), Dr.-Ing. Ursula Schließmann (Fraunhofer IGB, stv. Institutsleiterin und Projektkoordinatorin)
Haben am 3. August 2024 den Demonstrationsbetrieb der SmartBioH2-Bioraffinerie bei Evonik in Rheinfelden eröffnet (v. l.): Marion Dammann (Landrätin Landkreis Lörrach), Staatssekretär Dr. Andre Baumann, Hermann Becker (Standortleiter Evonik), Dr.-Ing. Ursula Schließmann (Fraunhofer IGB, stv. Institutsleiterin und Projektkoordinatorin) © Evonik

Intelligent gekoppelte Biotechnologie für die Bioraffinerie

Um zu erfahren, wie die Bioraffinerie funktioniert, welche Herausforderungen zu bewältigen waren und was sie leistet, habe ich mit Dr.-Ing. Ursula Schließmann gesprochen. Die Verfahrensingenieurin ist nicht nur Koordinatorin des Projekts, sondern auch stellvertretende Institutsleiterin und Koordinatorin des Geschäftsfelds Umwelt und Klimaschutz am Fraunhofer IGB.

Wie kann es gelingen, mit einer Bioraffinerie industrielle Reststoffströme in Wasserstoff und weitere chemische Grundstoffe umzuwandeln?

Dr.-Ing. Ursula Schließmann: Mit Biotechnologie! In der SmartBioH2-Bioraffinerie verknüpfen wir dazu auf intelligente Weise zwei Verfahren zur biotechnologischen Wasserstofferzeugung miteinander: Die Wasserstoffproduktion durch Purpurbakterien, die ohne Licht in einem geschlossenen Bioreaktor stattfindet, und eine nachgeschaltete Verfahrensstufe mit Mikroalgen in belichteten Photobioreaktoren. Die Purpurbakterien verwerten dabei Ethanol aus dem Spülwasser, welches beim Reinigen der Produktionsanlagen anfällt. Neben Wasserstoff produzieren sie nutzbare Wertstoffe, aber auch Kohlenstoffdioxid. Kohlenstoffdioxid wiederum wird von Mikroalgen als Kohlenstoffquelle benötigt, damit diese wachsen können. Diese binden das durch die Bakterien produzierte CO2 in ihrer Biomasse und verwerten zudem einen weiteren anfallenden Reststoff, Ammoniumchlorid, als Stickstoff-Nährstoff. Auch die Mikroalgen produzieren Wasserstoff und weitere nutzbare Wertstoffe. Damit ist der Kreislauf geschlossen: Aus den industriellen Reststoffen erzeugen die Organismen Wasserstoff und weitere hochwertige Produkte, die sich in verschiedenen Anwendungen einsetzen lassen – ohne neue Emissionen zu erzeugen.

Grüner Wasserstoff wird mit erneuerbarem Strom per Elektrolyse aus Wasser erzeugt. Er wird nicht nur für die Energiewende benötigt, sondern auch als klimaneutraler Industrierohstoff. Ist Biowasserstoff eine Alternative zu grünem Wasserstoff?

Dr.-Ing. Ursula Schließmann: Es ist grundsätzlich nicht neu, dass sich Wasserstoff auch mithilfe biotechnologischer Verfahren herstellen lässt. Biowasserstoff ist, da ohne den Einsatz fossiler Energieträger hergestellt, in diesem Sinne somit auch »grün«. Die Verfahren mit Wasserstoff produzierenden Purpurbakterien oder Mikroalgen werden auch bereits seit langer Zeit untersucht. Im größeren Maßstab umgesetzt wurden sie bisher aber nicht. Tatsächlich ist die Anlage im Projekt SmartBioH2-BW die erste Demonstrationsanlage, mit der die Herstellung von Biowasserstoff nun in einem technischen Maßstab erprobt wird. Der Testbetrieb wird nun zeigen, wie viel Wasserstoff wir mit den im Werk anfallenden Abfallströmen erzeugen können. Da der produzierte Biowasserstoff bei Evonik herkömmlich erzeugten grauen Wasserstoff ersetzt, wird er auf jeden Fall zu einer dezentralen lokalen Versorgung beitragen.

Woran ist die technische Umsetzung bisher gescheitert? Welche Herausforderungen müssen bei der Skalierung in einen größeren Maßstab bewältigt werden?

Dr.-Ing. Ursula Schließmann: Die Herausforderungen liegen vor allem in der Reaktortechnik, aber auch in der Skalierbarkeit der technischen Module bzw. der biotechnologischen Prozesse. Zudem hat jeder Mikroorganismus spezielle Anforderungen an seine Umgebung, zeigt aber auch ein jeweils anderes Verhalten gegenüber den äußeren Einflüssen bzw. Rahmenbedingungen. All das haben wir im Projekt SmartBioH2-BW berücksichtigt und technisch gelöst.

Was haben die bisherigen Untersuchungen gezeigt? Wie ist der aktuelle Stand und welche Produkte werden erzeugt?

Dr.-Ing. Ursula Schließmann: Zunächst haben wir in unserem Institut unter Laborbedingungen untersucht, ob die Bakterien und Mikroalgen auch wirklich mit dem Spülwasser von Evonik zurechtkommen, oder ob man noch etwas substituieren oder Konzentrationen verändern muss. Die Spülwässer enthalten ja nicht nur Ethanol, sondern auch andere Alkohole und Reste der hergestellten Chemieprodukte. Aber tatsächlich machen diese weder den Purpurbakterien noch den Mikroalgen etwas aus. Allerdings mussten wir für die Purpurbakterien das Spülwasser etwas anreichern, damit ausreichendes Wachstum und die Synthese von Wasserstoff möglich ist. Jetzt produzieren die Purpurbakterien nicht nur den begehrten Wasserstoff, sondern auch weitere nutzbare Produkte wie Carotinoide, fettlösliche Pigmente beispielsweise für die Kosmetik, oder den Biokunststoff Polyhydroxyalkanoat (PHA). Bei der Konzipierung der passenden Anlagen war unser Ziel, die Skalierung auf einen Reaktor ungefähr im 50- bis 100-Liter-Maßstab zu schaffen. Bei den Mikroalgen betreiben wir den Prozess so, dass Stärke als nutzbares Produkt hergestellt wird. Eingesetzt wird hier der zweite Reststoffstrom, Ammoniumchlorid, der bei Evonik anfällt. Die Anlagen haben wir am Institut eingefahren, an den Evonik-Standort nach Rheinfelden gebracht und vor Ort beide Bioverfahren miteinander gekoppelt. Auch hier können wir die Prozesse jetzt im Testbetrieb noch anpassen.

Können Sie schon abschätzen, wie wirtschaftlich die Bioraffinerie am Standort ist?

Dr.-Ing. Ursula Schließmann: Dazu ist es momentan noch zu früh. Auf Basis der praktischen Erfahrungen, die wir bis zum Abschluss des Projekts im Oktober dieses Jahres sammeln, können wir dann Szenarien modellieren, ob sich eine Anlage im industriellen Maßstab auch wirtschaftlich rentieren würde. Wichtig ist dabei, dass wir einen hohen Grad an Automatisierung vorgesehen haben, um die Ausbeute der Anlage zu verbessern. Aber auch eingesparte Entsorgungs- und Transportkosten für die anfallenden Reststoffe gehen natürlich in die Gesamtbilanz ein.

© Fraunhofer IGBIn der SmartBioH2-BW-Bioraffinerie werden mittels zweier miteinander verknüpfter biotechnologischer Verfahren aus industriellen Reststoffströmen Biowasserstoff und weitere Produkte, wie Carotinoide, PHA und Stärke, erzeugt.
In der SmartBioH2-BW-Bioraffinerie werden mittels zweier miteinander verknüpfter biotechnologischer Verfahren aus industriellen Reststoffströmen Biowasserstoff und weitere Produkte, wie Carotinoide, PHA und Stärke, erzeugt. © Fraunhofer IGB

Wie die technische Umsetzung der beiden Biotechnologie-Module gelungen ist und ob die Bioraffinerie als Modell für andere Industriebetriebe taugt …

Antworten auf diese spannenden Fragen erhalten Sie in weiteren Beiträgen zum Projekt SmartBioH2-BW, die Sie in den kommenden Monaten auf diesem Blog finden werden. Welche Herausforderungen bei der Skalierung der biotechnischen Module zu bewältigen waren und wie sie technisch gelöst wurden, erfahren Sie in Blog-Posts zum Purpurbakterien-Modul von Simon Krake und zum Mikroalgen-Modul von Andrew Corbin. Beide forschen als Doktoranden am Fraunhofer IGB. Des Weiteren stellen Ihnen die Kollegen vom Fraunhofer IPA das Prozessmodell vor, das die wichtigsten Inputs und Outputs des gesamten Bioraffineriekonzepts vorhersagen kann. Zum Abschluss, wenn alle Ergebnisse ausgewertet sind, werden wir auch berichten, inwiefern andere Industriebetriebe und Branchen von unserer Bioraffinerie profitieren können.

Falls Sie sofort Verwertungsstrategien für Ihre Rest- und Abfallstoffe suchen, können Sie uns selbstverständlich auch jetzt schon kontaktieren.

Weitere Informationen zum Projekt

SmartBioH2-BW – Biowasserstoff aus industriellen Abwasser- und Reststoffströmen als Plattform für vielseitige Biosynthesewege

Förderung

Das Projekt »SmartBioH2-BW – Biowasserstoff aus industriellen Abwasser- und Reststoffströmen als Plattform für vielseitige Biosynthesewege« wird von Oktober 2021 bis Oktober 2024 durch das Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg im Rahmen des EFRE-Programms »Bioökonomie – Bioraffinerien zur Gewinnung von Rohstoffen aus Abfall und Abwasser – Bio-Ab-Cycling« gefördert.

Kooperationspartner

  • Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB (Koordination)
  • Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA
  • Universität Stuttgart, Institut für Biomaterialien und biomolekulare Systeme IBBS
  • Universität Stuttgart, Institut für Energieeffizienz in der Produktion EEP
  • Evonik Operations GmbH (assoziierter Partner)

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